In welcher digitalen Gesellschaft wollen wir leben?

Gestern fand in Berlin die Verleihung der Biene-Awards statt. Der Positivpreis für besonders barrierefreie und gut gemachte Webseiten wurde zum sechsten Mal verliehen. Die Aktion Mensch hatte mich angefragt, die Festansprache zum Auftakt der Gala zu halten. Das hab ich gemacht und neuen Zielgruppen was über Netzpolitik erzählt. Das kam auch gut an.

Hier ist der Redetext, in Teilen hab ich aber frei geredet:

Hallo, danke für die Einladung, hier auf der Verleihung der Biene Awards die Festansprache zu halten. In Bezug auf das Motto der Aktion Mensch Kampagne „Die Gesellschafter“ werde ich die Leitfrage „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ auf das Internet-Zeitalter ausdehnen: „ In welcher digitalen Gesellschaft wollen wir leben“. Und dabei einige Punkte anreissen, um die Komplexität dieser Debatte etwas zu streifen.

Wir müssen uns Gedanken über ein Recht auf Zugang machen. Offline zu sein bedeutet den Ausschluß aus weiten Teilen der gesellschaftlichen Partizipation, das Abschneiden von Bildungs- und Informationsmöglicheiten.

Es ist eigentlich eine Schande, dass ein so modernes Land wie Deutschland im Jahre 2009 immer noch nicht vielen Bürgern einen Breitbandzugang gewährleisten kann. Die Regierung vertraut auf den Markt, der offensichtlich dazu nicht fähig ist, das Problem zu lösen. Dabei gehört der Internetzugang heute längst zur Grundversorgung – und damit zu einer vernünftigen Infrastrukturpolitik.

So, wie sie Straßen und Autobahnen finanziert, müsste die Bundesregierung auch hier die Entwicklung unterstützen. Mittlerweile wird das wenigstens vermehrt angekündigt. Darüber hinaus sollten Kommunen – als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge – ihren Bürgern einen Grundzugang zum Netz gewährleisten, wie das bereits in einigen Ländern geschieht.

Kommunale WLAN-Netze böten sich dafür an; eine Grundversorgung mit Internet aus der Luft würde einen Innovationsschub bewirken. So könnte Deutschland der Sprung zur mobilen und inklusiven Internetgesellschaft gelingen.

In der digitalen Gesellschaft muss Informationsfreiheit das Grundprinzip jeder demokratischen Praxis sein. Wir brauchen dafür die offene Regierung und sollten die gegenwärtigen Regeln zur Informationsfreiheit auf den Kopf stellen:

Bisher müssen wir als Bürger den Staat fragen, damit dieser etwas offen legt. Richtiger wäre es, wenn alle Informationen automatisch online gestellt werden und der Staat im Einzelfall begründen muss, warum er etwas verheimlichen will. Im Internet ist noch genug Platz, da passen noch viele Informationen rein.

Gleichzeitig brauchen wir Bürgerwissen statt Staatswissen. Öffentlich geförderte Informationen müssen selbstverständlich den Bürgern unter offenen Lizenzen zur Verfügung gestellt werden.

Wir müssen aufpassen, dass die Netzneutralität gewährleistet bleibt, um eine Klassengesellschaft im Netz zu verhindern. Die diskriminierungsfreie Gleichbehandlung aller Daten im Internet ist Voraussetzung für Innovation und Teilhabe. Es behindert die Zugangsgerechtigkeit, wenn reiche Anbieter ihre Datenströmen über Schnellstrassen zu den Nutzern schicken können. Und nicht-kommerzielle Projekte oder innovative Ideen über langsame Trampelpfade geschickt werden. Die Netzneutralität hat das Internet nach vorne gebracht. Wir sollten sie bewahren und sichern.

Außerdem muss Deutschland mehr Open Source wagen. Vor einigen Jahren gehörte die Bundesregierung bei der Förderung von Freier Software noch weltweit zu den Vorreitern. Doch in den letzten Jahren ist es darum sehr still geworden. Andere Länder überholen uns. Die Innovationen kommen aus der Gesellschaft. So gehört die deutschsprachige Wikipedia weltweit zu den aktivsten Communitys, die freies Wissen für alle schafft. Das Projekt „Open Street Map“ entwickelt freies Kartenmaterial, und in vielen Städten bauen Freifunk-Communitys freie WLAN-Netze. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Vernetzung von Bürgern sowie zum Abbau der digitalen Kluft auf lokaler Ebene.

Eine Vielzahl an freien Softwareprojekten geht auf die große Entwicklerbasis in Deutschland zurück. Und unzählige Internetnutzer veröffentlichen ihre Inhalte in Form von Blogs, MP3s, Videos und andere kulturelle Erzeugnisse unter Creative-Commons-Lizenzen, die das Weiterverwenden und Remixen erlauben. Doch dieses Engagement wird leider nicht als bürgerschaftliches Engagement anerkannt, geschweige denn gefördert. Für jeden Beitrag, der unter einer offenen oder freien Lizenz mit anderen geteilt wird, müsste eigentlich ein Danke Schön von der Gesellschaft kommen. Denn diese Taten bedeuten das Teilen von Wissen und Kultur in einem Zeitalter, wo vieles nur noch privatisiert wird.

Auch muss uns bewusst sein: Die digitalen Infrastrukturen des Staates müssen frei, offen und demokratisch kontrollierbar sein. Nur offene Standards und die Verwendung von freier Software gewährleisten einen diskriminierungsfreien und nachhaltigen Zugriff auf Vorgänge und Abläufe in Politik und Verwaltung.

Aber eine digitale Gesellschaft braucht auch Privatsphäre. Seit wenigen Wochen gilt die flächendeckende Vorratsdatenspeicherung von Verbindungen, dazu kommen die Pläne für heimliche Onlinedurchsuchungen von Computern und die vielen Datenschutzskandale der letzten Wochen und Monate lösen bei den Bürgern Ängste hervor.

Wenn sich unbescholtene und unverdächtige Menschen aber aus Angst vor einem „Big Brother“-Staat nicht mehr trauen, das Netz unbesorgt zu nutzen, wie Umfragen nach der Einführung der Vorratsdatenspeicherung gezeigt haben, dann ist das ein Skandal – und schädlich für den IT-Standort Deutschland ohnehin.

Wie beim privaten Gespräch zu Hause im Schlafzimmer, im Park oder im Café braucht es auch in der digitalen Gesellschaft freie und anonyme Orte der Kommunikation. Es muss Bereiche geben, in denen der Staat nichts verloren hat.

Wir müssen das Urheberrecht reformieren. Das Urheberrecht muss den gesellschaftlichen Realitäten angepasst werden – nicht die gesellschaftlichen Realitäten dem Urheberrecht. Neue Technologien müssen umarmt und nicht verdammt werden, gleichzeitig müssen die Leistungen der Kreativen angemessen honoriert werden. Stattdessen wird ein Kampf gegen die junge Generation geführt in der vermeintlichen Hoffnung, das Rad zurück drehen zu können und alte überholte Geschäftsmodelle zu bewahren.

Waren es am Anfang Klagewellen mit unverschämt hohen Schadensersatzforderungen – für das Tauschen von Kultur, läuft die Diskussion gerade in die Richtung: Einfach das Internet abschalten. Das ist vollkommen unverhältnismässig. Auch das wird nicht das Problem lösen, wie man Kultur im digitalen Zeitalter vergüten kann. Hier sind andere Ansätze hilfreicher, wie die Einführung einer Kulturflatrate.

Was wir für die Gestaltung einer digitalen Gesellschaft noch brauchen? Ich wünsche mir Politiker, die nicht nur von Medienkompetenz und lebenslangem Lernen reden, sondern das Internet auch in ihr Leben integrieren. Das Internet geht nicht mehr weg, auch wenn einige noch die Hoffnung zu haben scheinen, bis zu Rente ohne das Netz ihren Politiker-Beruf ausleben zu können. Mit mehr medienkompetenten Politikern können auch bessere Gesetze entstehen.

Und wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte über die digitale Gesellschaft. Eine Debatte, die nicht nur über die Gefahren geführt wird, sondern auch über die Chancen. Und die nicht über, sondern mit der jungen Generation geführt wird, die schon im Netz lebt.

Auf der kommenden re:publica’09 werden wir dazu einen Auftakt zusammen mit der Aktion Mensch machen. Und fragen: „In welcher digitalen Gesellschaft wollen wir leben?“ Die re:publica ist eine Konferenz über Blogs, soziale Medien und die digitale Gesellschaft und wird Anfang April mehr als 1200 Menschen nach Berlin ziehen.

Ich wünsche mir, dass wir eine freie, offene und nachhaltige digitale Gesellschaft gestalten. Machen Sie mit!

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5 Ergänzungen

  1. Hallo
    Müssen wir nicht zuerst eine vernüftigen Medienbildung erreichen bevor ganz Deutschland per Breitband an das Internet angebunden ist?

    Gibt es überhaupt VHS Kurse zum richtigen Finden und Suchen im Internet?

    Gruss
    Gunnar

  2. Die rede hatte gute Kernthesen. Es ist genau das, was ich auch schon siet Jahren versuche zu „predigen“: Wer echte Demokratie und damit gleiche Rechte und Freiheiten für alle will, muss dies auch bei Techniken, Verfahren und Standards befürworten. Freiheit ist nicht aufteilbar in Freiheit nur für die eine Personengruppe, während eine andere Gruppe aussen vor gelassen wird.
    Barrieren entstehen nicht allein durch Behinderungen, sondern auch durch mangelhafte Technik, durch fehlende Bildung, durch Intolleranz oder -wie auch in der Rede angesprochen- durch verfehlte Politik, die sich nur zugunsten von Lobbygruppen ausrichtet.

    Leider kam vieles davon in der Rede nicht so rüber. Da hättest du etwas mehr Feuer geben sollen und auch etwas mehr in die Zusammenhänge gehen müssen.
    In Gesprächen mit anderen vor Ort wurde oft der Zusammenhang nicht erkannt.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.